Europäische Perspektiven
Ein neues europäisches 'Bauhaus'
Die Kultur einer Nation prägt nicht nur ihre Identität, sondern auch die Denkweise ihrer Bürger. Was jedoch die Glaubwürdigkeit eines Landes und seine Fähigkeit zur Einflussnahme in europäischen und globalen Angelegenheiten bestimmt, sind genau die Prinzipien und Werte, die diese Kultur unterstreichen.
Um eine nachhaltige Zukunft zu verwirklichen, wird die Wirksamkeit der hochgeschätzten Prinzipien zum zentralen Thema. Unabhängig davon, ob es sich um Billigkeit, Gerechtigkeit, Transparenz, Respekt oder Vertrauen handelt, ist es ihre tiefe Verankerung im Leben der Bürger, die es dem Nationalstaat ermöglicht, in der Diplomatie erfolgreich zu sein, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen und den entscheidenden Wettbewerbsvorteil auf den Märkten zu entwickeln.
Der Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida hat gezeigt, wie eine Kultur der Offenheit, Toleranz und Kreativität eine beneidenswerte wirtschaftliche Innovationsdynamik fördert. Ohne das solide Fundament der auf Prinzipien basierenden Kultur wird Soft-Power zu kaum mehr als Manipulation und dem Glätten von Rissen. Sicherlich wird Soft-Power von Regierungen weithin praktiziert, um das Image eines Landes in den internationalen Medien, in der Wirtschaft und im Tourismus sowie bei anderen Regierungen aufzuwerten. Ein Beispiel war das "Cool Britannia", das von der Tony-Blair-Regierung in Großbritannien vermarktet wurde. Auf einer tieferen Ebene nutzen mehrere europäische Regierungen ihre Kultureinrichtungen im Ausland, um die Ländermarke aufzubauen und zu stärken – darunter Frankreich (Alliance Française), Deutschland (Goethe-Institut) und Spanien (Instituto Cervantes).
Die EU scheint diesem Beispiel nun zu folgen, nachdem sie jahrzehntelang die Bedeutung der Kultur im weitesten Sinne vernachlässigt hat. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte in ihrer Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament die Gründung eines "neuen europäischen Bauhauses" an, eine Referenz an die deutsche Institution zur Modernisierung von Kunst, Architektur und Kunsthandwerk des frühen 20. Jahrhunderts in Weimar, die von der Arts-and-Crafts-Bewegung in Großbritannien inspiriert wurde. Sie wünscht sich eine solche Modernisierungsanstrengung erneut – einen Raum der gemeinsamen Schöpfung, in dem Architekten, Künstler, Ingenieure, Wissenschaftler, Designer und Studenten zusammenarbeiten.
Die 4.0-Wirtschaft und der Green Deal der EU, die ganz oben auf der europäischen Agenda stehen, müssen von unten nach oben durch eine einzigartige Vielfalt an wissenschaftlichen und soziokulturellen Perspektiven und Aktivitäten unterstützt werden. Sicherlich hat Präsident von der Leyen auch das Branding der EU im Sinn? Wenige Wochen später erhielt sie in Thessaloniki den Kaiserin-Theophano-Preis, der zum ersten Mal an das Studentenaustauschprogramm Erasmus vergeben wurde. Vielleicht misst diese Kommission der Verbundenheit mit den Bürgern über Kultur und Bildung mehr Bedeutung bei als früher?
Der Bezug zu Bauhaus ist für Europa aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung. Es ist ein Synonym für Interdisziplinarität, ohne jegliche Hierarchie zwischen Kunst und Wissenschaft oder zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung. Interdisziplinäre Arbeit und Kooperation sind notwendig, um wachsende und komplexe gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen. Die Kommission braucht eine breite Zusammenarbeit zwischen Organisationen des öffentlichen, privaten und dritten Sektors sowie zwischen den Mitgliedsstaaten, um Lösungen für technologische, ökologische und soziale Herausforderungen zu finden. Ziel ist es, Brücken zu bauen und gemeinsam über diese hinweg zu arbeiten, wobei jeder einzelne durch sein eigenes Talent beiträgt und von anderen lernt, um wichtige europapolitische Ziele wie den Green Deal zu verwirklichen. Das neue große Forschungsbudget weist in die gleiche Richtung.
Bauhaus verweist zudem auf eine gewisse Genügsamkeit - Minimalismus -, die das Kreislaufwirtschaftspaket der EU inspirieren kann, das auf das Recycling von Materialien abzielt und zu einer neuen Art der Ressourcennutzung im Sinne einer nachhaltigen Zukunft beiträgt. Aber es erfüllt darüber hinaus auch einen sozialen Zweck, denn seine Gestaltung sollte für möglichst viele Menschen zugänglich sein. Die EU ist bestrebt, zur Verbesserung des Lebens in ihren Mitgliedstaaten und auf internationaler Ebene beizutragen, wobei besonderes Augenmerk auf die Verbesserung der Zusammenarbeit mit einem auf Abwege geratenen Mitglied (Großbritannien) und mit Afrika, einem Kontinent der Zukunft, gelegt werden soll.
Es ist ein attraktives Konzept für die jüngere Generation, da es einen Schwerpunkt auf Kreativität legt. Vielleicht versucht die Kommission, aus ihrer technokratischen und bürokratischen Kultur auszubrechen und in Zeiten der Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit, die durch die Pandemie, den Klimawandel, technologische Innovationen und internationale Unruhen hervorgerufen werden, innovative Forschung zu betreiben und Lösungen zu finden. Der Schaffung von Wissen muss ebenso viel Gewicht beigemessen werden wie der Anwendung von Wissen. Sicherlich versucht Präsidentin von der Leyen mit ihrem Hintergrund im deutschen "Bildung"-Konzept (breite kulturelle Bildung zusätzlich zur wissenschaftlichen Bildung) auf sanfte Weise eine stärkere europäische Identität zu entwickeln, indem sie nationale Identitäten wieder aufgreift und ihnen kollaborative, innovative Interpretationen gibt. Dies ist vor allem gegenüber den neuen Mitgliedsstaaten wichtig.
Auf diese Weise kann die Kommission mehr zu einem intellektuellen Motor in Europa werden, aber auch zu einem Zentrum innovativer, kreativer Ideen und neuer gewagter Methoden, wie Politik effektiv umgesetzt werden kann, um ihre grünen und nachhaltigen Ziele zu verwirklichen.